Begrüßung
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
liebe Kunstinteressierte,
nur sehr langsam erwacht das soziale und kulturelle Leben in Deutschland nach der langen Pandemie-bedingten Zwangspause. Die Sehnsucht nach einem „normalen“ Leben, auch wieder dem unbeschwerten Genuss von Kunst- und Kulturveranstaltungen, ist überall groß. Umso bedauerlicher ist es, dass die sehenswerte Ausstellung „Farbe schafft Räume“ von Erhart Schröter zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht vor Publikum gezeigt werden kann. Unter dem Gesichtspunkt des Gesundheitsschutzes ist dies aber natürlich nachvollziehbar.
Ich bin deshalb auch dankbar, dass Erhart Schröter sich frühzeitig damit einverstanden erklärt hat, seine Werke in einer virtuellen Ausstellung zu zeigen, damit sie so zumindest einen kleinen Eindruck seines künstlerischen Schaffens bekommen können. Auch wenn die Präsentation eines Künstlers und seiner Exponate auf einer Homepage mittlerweile für die Beteiligten mit einer gewissen Routine verbunden ist, kann sie eine reale Ausstellung in den Räumen der TORHAUS-GALERIE natürlich nicht ersetzen.
Sein Studium begann er an der Uni Marburg mit Geschichte und Kunstgeschichte und an der Universität München folgte das Studium der Germanistik. Ausstellungen zur klassischen Moderne (Chagall, Gauguin, Max Beckmann) im Haus der Kunst und im Lenbachhaus erweiterten seinen künstlerischen Horizont.
Sein Kunststudium mit Schwerpunkt Malerei begann er 1960 an der Werkakademie (HfbK) in Kassel mit Lehrern, die ehemalige Bauhausschüler waren und als solche neben der abstrakten Kunst der klassischen Moderne auch Design, Landschaftsgestaltung und Städtebau lehrten. In der Malklasse von Frau v. Rogister und Fritz Winter entwickelte er seinen Stil. Als Student arbeitete er mit beim Aufbau der Dokumenta 1 und 2 unter dem Gründer Arnold Bode.
Als Kunsterzieher unterrichtete er am Büchner-Gymnasium in Darmstadt und wurde 1969 Assistent bei Hermann Ehmer am Erziehungswissenschaftlichen Fachbereich der Universität in Göttingen. Hier wurden wir für rund 20 Jahre Kollegen, Erhart Schröter für Ästhetische Erziehung und ich als Leiter des Hochschulinternen Fernsehens. Das didaktische Konzept der Visuellen Kommunikation erweiterte die Kunst um den Bereich der Medien. In diesem Konzept ging es um die Verwendung von modernen Medien im Unterricht.
Seit seiner Pensionierung Ende der 90er Jahre arbeitet er als freischaffender Künstler.
Sein Atelier in der Musa, später im Künstlerhaus, eröffnete neue Möglichkeiten. Der Kunstmarkt in Göttingen, die Vorstandsarbeit mit dem Aufbau des Künstlerhauses haben ihm neue künstlerische Möglichkeiten erschlossen. Einen vorläufig krönenden Höhepunkt bildete die große Retrospektive 2018 im Alten Rathaus unserer Stadt.
Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen beim Betrachten der Ausstellung.
Im Mai 2021
Ulrich Holefleisch
Bürgermeister
Einführende Worte
Erhart Schröter – „Farbe schafft Räume“
„Bilder sind die Fenster der Welt“ (Julia Otto 2007 anlässlich einer Ausstellung von Werken Schröters)
Wenn wir unseren Blick durch Fenster auf die Welt richten, sehen wir stets nur Ausschnitte. Ausschnitte können wir selbst aus Bildern herausnehmen, diese mit einer Lupe vergrößern, und wir gewinnen dabei etwas, nämlich neue Perspektiven. Erhart Schröter hatte die Idee, im Rahmen dieser Ausstellung die Bilder in solch zweifacher Weise zu präsentieren: das Original und zusätzlich einen in gleichem Größenumfang präsentierten Ausschnitt daraus. Wenn wir aktuell auf digitale Präsentationen zurückgreifen müssen und Ausstellungen online stellen, muss das nicht nur einen Verlust bedeuten. Wir können damit neue Möglichkeiten der Präsentation erproben; gerade das eröffnet uns neue Räume, neue Perspektiven.
Farbe öffnet Räume und „Farbe schafft Räume“: das wird auch digital erfahrbar. Was wir nicht unmittelbar erspüren können, ist die Eigenschaft des Materials. Sackleinen als Malgrund und der Auftrag von Farbe auf eine solche Struktur bietet im direkten Kontakt mit dem Werk eine haptische somit eigene ästhetische Erfahrung, die digital kaum vermittelt werden kann. Aber wenn man genau hinschaut, kann man sie erahnen.
Im Bild „Tiefenraum“ z.B. ist Sackleinwand das strukturgebende Material. Eine Naht in der Mitte teilt das Bild in zwei Hälften. Im unteren Teil sind Reste von Aufdrucken als Spuren von Gebrauch (z.B. „1907“) noch erkennbar. Längsstreifen der Säcke geben mit ihren noch erkennbaren Doppelstrukturen einen weiteren Verfremdungseffekt. Der Eindruck von der Tiefe des Raums entsteht jedoch in der Kontrastierung der Farben Blau und Gelb. Blau ist für Erhart Schröter die Farbe der Atmosphäre, des Wassers. Die Komplementärfarbe Gelb vereint sich an manchen Stellen mit dem Blau zu Farbe Grün, die auch für intakte Natur steht. Mischt sich etwas Rot hinein, kann man warme Strände assoziieren. In unserer Wahrnehmung entsteht vielleicht ein weiter Blick aufs Meer. Fokussiert man den Blick auf Details oder schneidet man nun Teile aus und vergrößert sie, entstehen unter diesem „Zoom-Effekt“ neue faszinierende, mitunter auch abstrakt anmutende Räume.
Eine Zweiteilung, hier auf zwei aufeinandergestellten Leinwänden wie bei einem vertikalen Diptychon, findet man im Bild „Fluchtwege“. Ein an organisches Material gemahnendes Braun hat Erhart Schröter für das fast naturgetreu gezeichnete, am Strand gefundene aufgereihte Totholz gewählt, und gleichzeitig lässt deren Anordnung einen Totentanz assoziieren. Das alles vor einem blauen Hintergrund. Man könnte an Menschen denken, die über das (Mittel-)Meer neue Räume für sich suchten und dabei umkamen. Das Narrativ Migration visualisiert sich fotorealistisch in den Hölzern. Vor dem inneren Auge entstehen Gestalten, Fluchtbewegungen – ängstliche Emotion kann damit verbunden sein, soziale Identifikation. „Räume“ als Thema also nicht nur in der Bildstruktur, sondern auch im Kontext einer Erzählung dieses Bildes. Zwei Räume sind da; Meer und trügerisches Ufer. Die Totentanzfiguren aus dem oberen Bild spiegeln sich vage im unteren. Hier, wo man zunächst vielleicht an ein Ufer denken könnte, ist die textile Struktur durch das untergelegte Leinen deutlich hervorgehoben. Erhart Schröter erwähnt in diesem Kontext gewebte griechische Teppiche, was bei Betrachtung aus der Nähe jedenfalls nachvollziehbar wird. Das Narrativ von Flucht wird so ergänzt um einen geographischen Bezug.
Erhart Schröter kennt Griechenland, seine Mythen und das Meer dort sehr genau. In „Navage“ kann man sich vielleicht ein Schiffswrack (Tiefenraum Blau als Meeresgrund, darauf abgesunken schwarze Planken) vorstellen. Befände man sich in diesem Wrack, könnte man oben weiße Flecken als hoffnungsvollen Blick auf Licht und Luft erkennen. Die Farbe Rot rechts unten im Bild kann Leben assoziieren, Blut, und zugleich auch verweisen auf Menschen, die bei dem Schiffsuntergang ums Leben kamen. Vielleicht mögen Sie sich von dieser Vorstellung anrühren lassen. Stellen Sie sich dann wiederum einzelne Bildausschnitte vor, mal mit diesem Rot, mal ohne! Wie sehr wird sich dadurch die Stimmung verändern. Farbe verändert Räume. Natürlich würden Sie das viel deutlicher erleben können, stünden Sie vor dem Originalgemälde. Aber vielleicht gelingt Ihnen dies ja auch schon am Bildschirm.
Städte, Schilfgürtel, vieles andere auf unserer Erde können wir in der Arbeiten Schröters erkennen. Die Farbe kommentiert die Stimmung, die Temperatur.
Auch ins All geht der Blick. Das Bild „Asteroid“ zum Beispiel: hier ist die kalte Bläue des Weltalls, das an kristalline, eisige Nadeln und Spitzen gemahnende Weiß, das Braun, das an rostiges Metall erinnern mag, das doch jedenfalls die Meteoriten kennzeichnet. Begriffe wie kosmisch, kalt, menschenfeindlich fallen dazu ein. Eine weiße Struktur links im Bild erinnert an einen behauenen Eisblock, hier also ein Artefakt, das auf menschliches Handeln verweist und uns beim Betrachten des Bildes vielleicht etwa Halt gibt.
Allerdings: Die Farben füllen hier nicht nur zufällig Räume, sie definieren sie. In den Bildern Erhart Schröters sind auch sie eben Artefakte, die trotz aller Fülle der Details Halt geben und Anlass für Assoziation unserer eigenen Erfahrungen. Dies ist auch dann so, wenn Details aus den Bildern herausgeschnitten werden und auf den ersten Blick eine ganz divergente Atmosphäre atmen. Wir können ja auch dies tun: wir können die Stelle suchen und identifizieren, der die Detailvergrößerungen aus dem größeren Kontext herausgeschnitten wurden, und sie dort wieder einordnen. Das gibt Orientierung, Sicherheit und generiert vielleicht auch die Freude des Dechiffrierens. Gleichwohl ist jedes Bild nur ein Ausschnitt aus einer komplexen Welt, ein Fenster zur Welt.
Dr. Manfred Koller